Aus tausend und einer Nadel

Gefaltet, gekräuselt, gesteckt – Simone Pheulpin fasziniert mit skulpturaler Kunst.

Es war einmal ein Mädchen, das mit seiner Familie in den Vogesen verweilte. Beim Spielen in einer Textilfabrik entdeckte es ein langes Stück Stoff, von dem es sofort fasziniert war – auch noch, als es längst erwachsen war. Eines Tages fing die junge Frau an, den Stoff zu wickeln, zu falten, zu kräuseln und mit tausenden Nadeln festzustecken, bis aus dem rohen Baumwollmaterial ein skulpturales Wunderwerk entstanden war. Bald erkannten die Menschen, welch einzigartige Meisterwerke sie mit ihrer aussergewöhnlichen Kreativität schuf – und sie wurde in aller Welt als Künstlerin gefeiert. Was sich wie ein Märchen anhört, ist eine wahre Geschichte: die der französischen Textilkünstlerin Simone Pheulpin.

Wie Rillen und Spalten in Stein oder Jahresringe eines Baumes, wie gekräuseltes Moos oder filigrane Korallenbänke: Es sind organisch anmutende Strukturen, welche Simone Pheulpin aus dem ecru-farbenen, ungebleichten und einfachen Baumwollmaterial entwickelt. Ihre Skulpturen und Wandbilder sind einmalig, komplex, anspruchsvoll. Und ruhen dabei nur auf drei Säulen: erstens auf den kilometerlangen Stoffstreifen, welche sie noch in den Vogesen findet, ursprünglich bei der Herstellung von Autoreifen verwendet. Zweitens auf unzähligen Stecknadeln, die von aussen unsichtbar bleiben und sich nur bei einer Radiografie zu erkennen geben. Drittens auf der visionären Kraft, der spektakulären Technik und Fingerfertigkeit. Dazu kommt die Fähigkeit Pheulpins, dem Schaffensprozess seinen eigenen Lauf zu lassen. Ihr gelingt, mit einer Idee, aber ohne Plan ein Werk zu beginnen, es intuitiv weiterzuführen und instinktiv zu vollenden. Ihre Inszenierungen des Stoffes, deren Präzision und Facettenreichtum versetzen uns in ungläubiges Staunen und pure Faszination.

«Meine Werke sind das Ergebnis einer instinktiven Expression.»
Simone Pheulpin, Artist

Mit ihren originären Kunstwerken begann die 1941 in Nancy geborene Künstlerin in den 1970er Jahren. Keine leichte Zeit, sich als Frau und Autodidaktin in der Kunst erfolgreich durchzusetzen. In den Anfängen noch belächelt und als Handarbeiterin abgetan, ist sie heute eine international anerkannte und hochdekorierte Textilkünstlerin: Ihre Werke sind in den Hallen namhafter Institutionen – darunter das Musée des Arts décoratifs in Paris, das Victoria and Albert Museum in London und das Chicago Art Museum – zu sehen. Dazu kommen zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen, nicht nur innerhalb Frankreichs, sondern auch in der Schweiz, in Deutschland, Belgien, Polen, Grossbritannien, USA und Japan. Ihre Hingabe und Leidenschaft haben ihr zahlreiche Ehrungen und Preise eingebracht, zuletzt den Grand Prix de la Création der Stadt Paris und einen Ehrenpreis des Craft Prize der Loewe Foundation. An ein Ende ihrer Künstlerkarriere denkt die 82-jährige Simone Pheulpin noch nicht – und das ist auch gut so.

X-RAY SHOWS NEEDLED ART.

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